Wissenschaftliche Leitlinien

Nahezu alle Themen, die im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie e.V.“ diskutiert werden, haben einen Aspekt miteinander gemeinsam: Sie können massive Streitigkeiten auslösen. Aus diesem Grund soll in Bezug auf alle Themen vorausgreifend erläutert werden, warum jede Form von Polemik prinzipiell unwissenschaftlich ist und in welcher Weise dieselbe vermieden werden kann. Die damit verbundenen wissenschaftlichen Leitlinien werden in drei Arbeitsschritten skizziert: Zunächst wird dargelegt, warum Themen der Thanatologie so leicht Streitigkeiten inspirieren. Daraufhin wird erläutert, inwiefern die Beiträge der „Kieler Akademie für Thanatologie e.V.“ der Vorbereitung „subjektiver Plausibilitätsurteile“ dienen. Vor diesem Hintergrund wird die Unterscheidung der Begriffe „Religion“, „Religiöse Systeme“ und „Religiosität“ entfaltet.

Für ausführliche Erläuterungen zu diesen wissenschaftsgeschichtlichen und erkenntnistheoretischen Vorüberlegungen vgl.:

  • E. E. Popkes, Erfahrungen göttlicher Liebe, Band 1: Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus und zum frühen Christentum, Göttingen 2018, 23-83.
  • E. E. Popkes, Platonisches Christentum: Historische und methodische Grundlagen (Platonisches Christentum 1), Norderstedt 2019, 94-110.

Polemik im Kontext der Thanatologie

Im Kontext verschiedener Themen der Thanatologie lassen sich zuweilen Phänomene beobachten, die nicht toleriert werden können, nämlich Polemik und persönliche Diffamierungen. Dass es zu diesen Phänomenen kommt, kann einerseits dem Umstand geschuldet sein, dass Auseinandersetzungen mit dem Thema Tod bzw. mit der Frage eines etwaigen Lebens nach dem körperlichen Tod nicht nur eine wissenschaftliche Diskussionsebene berühren, sondern stets auch die persönliche Existenz der Diskussionsteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer. Anderseits kann jene Polemik darauf zurückgeführt werden, dass viele unterschiedliche Forschungsfelder in den Diskussionen berührt werden, wodurch konträre Fachkompetenzen miteinander in Konkurrenz treten. Gleichwohl muss festgehalten werden, dass Polemik auf der Ebene einer wissenschaftlichen Kommunikation keinerlei Sinn und Funktion hat. Polemik entsteht oft in solchen Situationen, in denen zwischen einer sachlichen und persönlichen Ebene nicht richtig unterschieden wird. Viele polemische Auseinandersetzungen dokumentieren ein mangelndes Maß an wissenschaftlicher Reflexionsfähigkeit. Im Kontext einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Themen der Thanatologie muss es jedoch möglich sein, dass Vertreterinnen und Vertreter konträrer Positionen ihre Ansichten einander kommunizieren, ohne dass es zu polemischen Ausfällen oder persönlichen Diffamierungen kommt. Auf einer wissenschaftlichen Kommunikationsebene kann und darf es auch kein Ziel sein, dass einzelne Sprecherpositionen versuchen, ihre Ansichten anderen Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmern „missionarisch“ aufzudrängen. Es geht vielmehr darum, im interdisziplinären Diskurs die unterschiedlichen Grade an Plausibilität zu bestimmen, die den gegensätzlichen Erklärungsansätzen zugesprochen werden können. Vor allem jedoch wird durch Polemik etwas verhindert, was für weitere Forschungen zu Themen der Thanatologie von zentraler Bedeutung ist, nämlich eine interdisziplinäre Kommunikation unterschiedlicher Fachexpertisen, über welche einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht verfügen können.

Subjektive Plausibilität

Ein zentrales Anliegen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ besteht darin, „subjektive Plausibilitätsurteile“ vorzubereiten. Der Begriff der „subjektiven Plausibilität“ kennzeichnet eine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Mittelposition, welche für verschiedenste Forschungsfelder von Relevanz ist. Wenn in Bezug auf eine wissenschaftliche Fragestellung nicht eindeutig festgestellt werden kann, ob ein Erklärungsansatz ohne Zweifel richtig oder falsch ist, so muss erörtert werden, inwiefern ein Erklärungsansatz mehr oder weniger plausibel ist. Plausibilitätsurteile sind wiederum per se subjektiv – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Die etymologischen Wurzeln des erst frühneuzeitlich belegten Begriffs „Plausibilität“ liegen nämlich in den lateinischen Begriffen plaudere bzw. plausibilis („Beifall klatschen“ bzw. „Beifall verdienend“). Die dem Wortstamm innewohnende Metaphorik bringt somit zum Ausdruck, dass die einzelnen Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer für sich selbst zu entscheiden haben, welchem Erklärungsmodell für eine wissenschaftliche Fragestellung sie zustimmen oder – um im Bild zu bleiben – „Beifall spenden“ möchten.

Religion – Religiöse Systeme – Religiosität

Viele Themen der Thanatologie berühren Vorstellungen, die gemeinhin als religiöse Vorstellungen verstanden werden. Aus diesem Grund muss eine Begriffsdifferenzierung erläutert werden, die in vielen Beiträgen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ vorausgesetzt wird, nämlich die Differenzierung der Begriffe „Religion“, „Religiöse Systeme“ und „Religiosität“: Während „Religion“ ein generelles Phänomen menschlicher Kultur ist, sind „religiöse Systeme“ kulturell und geschichtlich bedingte Konstruktionen, deren Modifikationen ihrerseits kulturelle und geschichtliche Wandlungen widerspiegeln. Demgegenüber bezieht sich der Begriff „Religiosität“ auf Phänomene, die zuweilen abschätzig als „religiöse Bricolage“, als „Patchwork-Religiosität“ oder als „privater Alltagssynkretismus“ bezeichnet wurden, also z.B. auf jene Phänomene, bei denen die etablierten Grenzen religiöser Systeme infrage gestellt werden und bei denen einzelne Personen für sich selbst entscheiden, welche Aspekte religiöser Systeme sie als plausibel erachten und welche nicht bzw. nicht mehr. Ebenso muss hervorgehoben werden, dass der Vorwurf einer Willkürlichkeit individueller Gestaltungen religiöser Weltbilder im Sinne historisch-kritischer und diskursanalytischer Perspektivierungen unberechtigt ist. Historisch-kritische Aufarbeitungen religionsgeschichtlicher Entwicklungen veranschaulichen vielmehr, inwiefern religiöse Systeme prinzipiell als „religiöse Bricolage“ oder „Patchwork-Religiosität“ verstanden werden können. „Religiosität“ ist vielmehr ein Ausdruck individueller und intellektueller Selbstbestimmung.