Im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ können alle Forschungsgebiete zur Diskussion gestellt werden, die für ein Verständnis des Phänomens „Tod“ von Bedeutung sind. Im Folgenden werden zwölf Themenfelder skizziert, die schrittweise ergänzt werden.
Nahtoderfahrungen
Ein zentrales Thema der Thanatologie sind sogenannte „Nahtoderfahrungen“. Die mit diesem (unpräzisen) Begriff bezeichneten Erfahrungsmuster scheiden die wissenschaftlichen Geister. Dass es kulturübergreifend eine unüberschaubare Fülle von Berichten über derartigen Erfahrungen gibt, ist unstrittig. Strittig ist jedoch bereits, wie sie überhaupt zu einem Thema der Wissenschaft werden können.
- Aus diesem Grund werden im Folgenden zunächst die Grundprobleme wissenschaftlicher Auseinandersetzungen mit Nahtoderfahrungen skizziert (1.).
- Daraufhin werden exemplarische Teilaspekte positiv wahrgenommener Nahtoderfahrungen benannt (2.).
- Ebenso werden vorausgreifend grundlegende Fragen aufgelistet, die im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ kontinuierlich zur Diskussion gestellt werden und in Bezug auf die alle Diskursteilnehmerinnen und Diskursteilnehmer für sich selbst entscheiden sollen, welche Erklärungsmodelle für sie plausibel sind (3.).
- Um diese „subjektiven Plausibilitätsurteile“ (vgl. die Begriffserläuterungen in den „Wissenschaftlichen Leitlinien“) vorbereiten zu können, werden konträre Deutungen von Nahtoderfahrungen beschrieben, welche die gegenwärtigen Diskurse prägen (4.).
- Daraufhin wird eine weitere Frage in den Raum gestellt, welche im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ kontinuierlich zu diskutieren ist. Es geht um die Frage, inwiefern die Geschichte und die Gegenwart der wissenschaftlichen Erforschung von Nahtoderfahrungen einem Phänomen entsprechen, das von dem Wissenschaftshistoriker und Philosophen Thomas S. Kuhn als das „Wesen wissenschaftlicher Revolutionen“ bezeichnet wurde (5.).
- Abschließend wird eine Differenzierung des Begriffs „Nahtoderfahrungen“ erläutert, die in allen Beiträgen der „Kieler Akademie für Thanatologie berücksichtigt wird (6.).
Zu ausführlichen Erläuterungen der nachfolgenden Thesen, ihren wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründen und erkenntnistheoretischen Prämissen vgl. E. E. Popkes, Erfahrungen göttlicher Liebe, Band 1: Nahtoderfahrungen als Zugänge zum Platonismus und zum frühen Christentum, Göttingen 2018, 5-102.
1. ÜBER UNAUSSPRECHLICHES SPRECHEN – GRUNDPROBLEME WISSENSCHAFTLICHER AUSEINANDERSETZUNGEN MIT NAHTODERFAHRUNGEN
Menschen, die von ihren Nahtoderfahrungen sprechen, heben hervor, dass dieselben die intensivsten und folgenreichsten Erfahrungen ihres Lebens waren. Gleichwohl sei es ihnen unmöglich, ihre Erfahrungen auch nur in Ansätzen angemessen sprachlich wiedergeben zu können. Dies gilt im besonderem Maße für das Phänomen, dass viele Nahtoderfahrene für sich in Anspruch nehmen, während jener Erfahrungen mit anderen Personen bzw. Wesen auf einer non-verbalen Ebene kommuniziert zu haben. Doch wie können prinzipiell inadäquate Erfahrungsberichte zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden? Dieses erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Grundproblem muss bei jeder Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen vergegenwärtigt werden. Die Probleme potenzieren sich jedoch nochmals, wenn die Konsequenzen jener Prämisse bedacht werden. Inzwischen liegen viele empirische Erhebungen und Dokumentationen von Nahtoderfahrungen vor, die in zuweilen sehr disparaten kulturellen und geographischen Kontexten durchgeführt wurden. Die sprachlichen und intellektuellen Voraussetzungen der betroffenen Personen können erhebliche Unterschiede aufweisen. Auch die methodischen Prämissen und Deutungskategorien, die den jeweiligen empirischen Erhebungen zu Grunde liegen, sind mitunter sehr heterogen. Dabei gilt es stets das methodische Problem zu bedenken, dass ein Raster vorgegebener Fragen, welches von den Urhebern der jeweiligen Erhebung konzipiert wurde, bereits suggestive Züge tragen kann und so die Ergebnisse präfiguriert. Wenn man wiederum darum bemüht ist, die Erfahrungsberichte aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten zu vergleichen, so ist man zwangsläufig auf sprachliche Übersetzungen angewiesen. Jede Übersetzung birgt jedoch auch Ansätze einer Interpretation. In der Konsequenz bedeutet dies, dass Erfahrungen, die bereits für sich genommen kaum angemessen sprachlich vermittelt werden können, um so schwieriger miteinander zu vergleichen sind. Angesichts dessen sollten die verschiedenen Versuche, eine große Zahl individueller Erfahrungsberichte zu kategorisieren und zu quantifizieren, stets mit einem gewissen Vorbehalt zur Kenntnis genommen werden. Derartige Statistiken können zwar instruktive Leitlinien wissenschaftlicher Diskussionen aufzeigen. Gleichwohl bleiben Versuche einer definitiven Objektivierung subjektiver Erfahrungen und Erlebnisse erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch betrachtet im hohen Maße problematisch.
2. EXEMPLARISCHE TEILASPEKTE POSITIVER NAHTODERFAHRUNGEN
Im Folgenden werden formal einzelne Aspekte umschrieben, die bei positiv wahrgenommenen Nahtoderfahrungen auftreten können:
- Die Ablösung des „Bewusstsein“ bzw. der „Seele“ vom „Körper“ (zuweilen in Verbindung mit sogenannten „autoskopischen“ bzw. „heautoskopischen Wahrnehmungen“).
- Wahrnehmungen von Geschehnissen in der unmittelbaren Umgebung (zuweilen innerhalb und außerhalb eines Raumes).
- Die Wahrnehmung eines Tunnels, der durchquert wird.
- Begegnungen mit verstorbenen Angehörigen und Freunden.
- Die Begegnung mit einem Lichtwesen, welches (abhängig von der kulturellen Prägung) als göttliches Wesen bezeichnet wird.
- Die Erfahrung einer „göttlichen Liebe“ und einer bedingungslosen Akzeptanz.
- Ein Rückblick auf das eigene Leben, welcher oft die Gefühle und Erfahrungen der Mitmenschen einschließt.8. Das Gefühl, in die eigentliche Heimat zurückgekehrt zu sein.
- Das Gefühl einer All-Verbundenheit allen Lebens.
- Wahrnehmungen einer „göttlichen Schönheit“.
- Wahrnehmungen einer musikalischen „Ur-Harmonie“.
- Wahrnehmungen bzw. Erinnerungen an eine „Allwissenheit“.
- Die Weigerung, in die bisherige körperliche Existenz zurückzukehren.
- Die Mitteilung, noch eine Aufgabe erledigen zu müssen.
- Der Verlust einer Angst vor dem eigenen Tod.
- Grundlegende Transformationen von Selbstbildern, Weltbildern und Menschenbildern.
3. GRUNDFRAGEN WISSENSCHAFTLICHER AUSEINANDERSETZUNGEN MIT NAHTODERFAHRUNGEN
Im Folgenden werden grundlegende Fragen skizziert, welche die Diskurse seit den Anfängen wissenschaftlicher Forschungen zu Nahtoderfahrungen prägen und welche im Rahmen der Beiträge der „Kieler Akademie für Thanatologie“ kontinuierlich zur Diskussion gestellt werden. Bei einigen dieser Fragen wird es eventuell nie möglich sein, sie abschließend wissenschaftlich zu beantworten. Ein primäres Anliegen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ besteht aber darin, interessierte Personen zu befähigen, für sich selbst zu entscheiden, welchen Grad an Plausibilität sie den konträren Antworten zu diesen Fragen zugestehen möchten (vgl. die Angaben in der Kategorie „Wissenschaftliche Leitlinien“):
- Warum können Menschen, die bereits in früher Kindheit erblindet sind bzw. sogar blind geboren wurden, nach einer Nahtoderfahrung zuweilen beschreiben, wie sie selbst zum Zeitpunkt dieser Erfahrung aussahen und in welcher Umgebung sich die lebensbedrohlichen Ereignisse abgespielt haben?
- Warum können taube Menschen Gespräche wiedergeben, die während ihrer Rettung aus akuter Lebensgefahr geführt wurden?
- Warum können Nahtoderfahrene nach einer Operation, die während einer Vollnarkose an ihnen durchgeführt wurde, zuweilen detailliert beschreiben, was sich innerhalb und außerhalb des Operationssaals abspielte?
- Wie kann erklärt werden, dass Nahtoderfahrene zuweilen Kenntnisse über verstorbene Angehörige gewinnen, von deren Existenz sie vorher nichts wussten?
- Wenn Nahtoderfahrungen als Depersonalisierung eine Notsituation erleichtern sollen, welchen Sinn machen dann negative Nahtoderfahrungen?
- Warum erleben Menschen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten vergleichbare Kernaspekte von Nahtoderfahrungen?
- Warum entsprechen die Inhalte der Erfahrungen oftmals nicht den dogmatischen Vorgaben jener religiöser Systeme, in denen die jeweiligen Personen sozialisiert wurden?
- Warum erleiden viele Menschen nach Halluzinationen oder Drogentrips oftmals massive psychologische Probleme, während Nahtoderfahrungen oftmals zum Fundament einer neuen positiven Selbst- und Weltsicht werden?
- Warum kommt es in Folge von Nahtoderfahrungen zuweilen zu medizinischen Heilungsverläufen, für die es keine schulmedizinische Erklärung gibt?
- Wenn es – wie oft postuliert wird – möglich wäre, alle Teilaspekte von Nahtoderfahrungen neurophysiologisch oder pharmakologisch künstlich zu stimulieren, warum werden dann deren therapeutische Potenziale auf psychologischer und physiologischer Ebene nicht regelmäßig künstlich stimuliert?
- In welchem Verhältnis stehen reduktiv-materialistische Deutungen von Nahtoderfahrungen, denen zufolge alle Dimensionen menschlicher Existenz, die mit Begriffen wie „Seele“, „Bewusstsein“, „Selbstbewusstsein“ etc. bezeichnet werden, auf hirnphysiologische Prozesse zurückzuführen sind, zu transhumanistischen und posthumanistischen Vorstellungen?
- In welcher Weise werden Forschungen zur sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ das Verständnis des Phänomens „Tod“ im Generellen und von Nahtoderfahrungen im Speziellen verändern?
4. KONTRÄRE DEUTUNGEN VON NAHTODERFAHRUNGEN
Die Frage einer wissenschaftlichen Deutung bzw. Erklärung von Nahtoderfahrungen ist eine der am kontroversesten diskutierten Fragen der Thanatologie. Im Folgenden sollen vier Kategorien von Zugangsperspektiven bzw. Erklärungsansätzen voneinander differenziert werden, nämlich deskriptive (1.) religiös-ontologische (2.) skeptische bzw. reduktiv-materialistische (3.) und parawissenschaftliche Positionen (4).
- Unabhängig von den Stärken und Schwächen der drei folgenden Positionen ist eine erste Zugangsperspektive zu benennen, die auch für die Vermittlung unterschiedlicher Erklärungsansätze hilfreich sein kann, nämlich eine um Neutralität bemühte deskriptive Position. Nahtoderfahrungen können als Phänomene betrachtet werden, die in verschiedenen religiösen und sprachlichen Kontexten begegnen und die offensichtlich auch in früheren Zeugnissen menschlicher Kulturen Analogien besitzen (dies wird auch von Vertreterinnen und Vertretern sogenannter skeptischer bzw. reduktiv-materialistischer Positionen eingeräumt). In dieser Hinsicht können sie als kulturelle Phänomene verstanden werden, über die auch auf einer historisch-deskriptiven Ebene diskutiert werden kann, ohne dass unmittelbar die Frage angemessener bzw. unangemessener Deutungen beantwortet werden muss. Würde man stattdessen postulieren, dass Nahtoderfahrungen prinzipiell nicht Gegenstände wissenschaftlicher Forschung sein können, weil sie sich etablierten wissenschaftlichen Paradigmen entziehen, so müsste eine solche Position ihrerseits als wissenschaftstheoretisch defizitär eingestuft werden. Wissenschaftstheoretisch betrachtet hat die Auseinandersetzung mit Nahtoderfahrungen partiell Affinitäten zu akademischer Theologie bzw. Religionswissenschaft. Letztere können sich ebenfalls religiösen Vorstellungen widmen, die als kulturelle Zeugnisse bzw. Ausdruck spezifischer Welt- und Menschenbilder analysiert werden, ohne dass dabei zugleich der Realitätsanspruch der jeweiligen Konzeptionen erörtert geschweige denn als existentiell bedeutend verstanden werden muss. Eine vergleichbare Differenzierung der Diskussionsebenen wurde in bisherigen wissenschaftlichen Diskussionen zu Nahtoderfahrungen oft nicht beachtet. Aus diesem Grund ist es notwendig, zunächst stets Beschreibungen der Phänomene vorzunehmen, die möglichst neutral gestaltet sein müssen. Erst vor diesem Hintergrund sollten beurteilende Positionen eingenommen werden, die als religiös-ontologisch, skeptisch bzw. reduktionistisch-materialistisch oder parawissenschaftlich kategorisiert werden können.
- Religiös-ontologische Positionen verstehen Nahtoderfahrungen als Indizien bzw. Beweise für die Existenz eines unsterblichen menschlichen Bewusstseins bzw. einer unsterblichen menschlichen Seele oder als Beweise einer Existenz Gottes. Derartige Positionen wurden v.a. in frühen esoterisch anmutenden Diskussionsbeiträgen vertreten, die in einer teils bewussten, teils unbewussten Opposition zu wissenschaftlichen Zugangsperspektiven positioniert waren. Dabei wird die Evidenz subjektiver Erfahrungen zumeist als bedeutender eingeschätzt als die Evidenz wissenschaftlicher Zugangsperspektiven. Als deutlichster Gegensatz zu religiös-ontologischen Positionen können skeptische bzw. reduktiv-materialistische Erklärungsansätze verstanden werden.
- 3Skeptischen und reduktiv-materialistischen Positionen zufolge können Nahtoderfahrungen im Rahmen der etablierten Paradigmen der jeweiligen Wissenschaften erklärt werden. So wurde z.B. im Bereich neurophysiologischer Erklärungsansätze versucht, Nahtoderfahrungen als Folgen hirnfunktionaler Veränderungen zu deuten. Als Beispiele solcher Erklärungsansätze kann verwiesen werden auf die Hypoxie-Hypothese, die Schläfenlappen- bzw. Temporallappen-Hypothese oder die Neurotransmitter-Hypothese. Dabei wurde verschiedentlich versucht, Teilaspekte von Nahtoderfahrungen künstlich zu stimulieren, z.B. durch neurophysiologische Mechanismen oder pharmakologische Induktionen. Ein weiteres Spektrum skeptischer Positionen eröffnet sich, wenn spezielle Formen psychologischer Deutungsansätze in die Diskussion einbezogen werden. In diesen Diskursfeldern wurde verschiedentlich versucht, Nahtoderfahrungen im Sinne eines unterbewussten Abwehrmechanismus bzw. einer Depersonalisierung im Zusammenhang lebensbedrohlicher Situationen zu deuten. In diesen Formen neurophysiologischer und psychologischer Erklärungsansätze wären Nahtoderfahrungen somit als spezifische Formen von Halluzinationen, Illusionen, Träumen oder Rauschzuständen zu deuten. Wissenschaftstheoretisch betrachtet basieren die skizzierten Positionen zumeist auf Prämissen, die einem sogenannten „reduktiven Materialismus“ nahe stehen (vgl. die entsprechenden Erläuterungen unter „Themen: Reduktiver Materialismus“).
- Parawissenschaftliche Positionen schließen an die zuerst genannten deskriptiven Perspektiven auf Nahtoderfahrungen an, ohne bereits eine religiös-ontologische oder skeptische Position einer Bewertung zu beziehen. Von skeptischen bzw. reduktionistisch-materialistischen Positionen unterscheiden sich parawissenschaftliche Positionen vor allem in ihrem Verständnis des menschlichen Bewusstseins und der Deutung des „Leib-Seele-Problems“. Sie verstehen die im Zusammenhang von Nahtoderfahrungen auftretenden Phänomene als Indizien, dass Bewusstsein nicht nur ein Produkt hirnphysiologischer Prozesse ist, sondern dass es unabhängig von der körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz existieren kann. Auf diese Weise könne die interdisziplinäre Erforschung von Nahtoderfahrungen neue Zugangsperspektiven zur Ergründung des „Leib-Seele-Problems“ eröffnen. Dabei gilt es zu betonen, dass der Begriff „parawissenschaftlich“ nicht negativ konnotiert ist. Er kennzeichnet vielmehr einen Vorbehalt, bei welchem noch nicht geklärt ist, ob sich ein neues Forschungsgebiet als Protowissenschaft bzw. als Pseudowissenschaft erweisen wird. Parawissenschaftliche Positionen sind darum bemüht, Nahtoderfahrungen als Phänomene zu erklären, die noch nicht im Rahmen bisher etablierter wissenschaftlicher Paradigmen angemessen gedeutet werden können. Es handle sich vielmehr um Phänomene, welche zu Reflexionen bzw. Weiterentwicklungen und gegebenenfalls zu Revisionen jener Paradigmen herausfordern. Solange solche Erklärungsansätze sich in den entsprechenden Diskursfeldern jedoch noch nicht etabliert haben, können bzw. müssen sie als parawissenschaftliche Positionen bezeichnet werden. Wenn es im Zuge weiterer Diskurse zu Paradigmenwechseln kommen sollte, sind auch diese Erklärungsansätze als wissenschaftliche Positionen zu bezeichnen. Die Vorstufen jener Diskurse könnten dann rückblickend als Protowissenschaft bezeichnet werden. Würde sich dieselben hingegen im wissenschaftlichen Diskurs nicht etablieren können, so müsste man jene Ansätze im Nachhinein als Pseudowissenschaften einstufen. Wissenschaftshistorisch betrachtet waren es oft solche Paradigmenwechsel, durch welche entscheidende Fortschritte innerhalb eines Forschungsfeldes erreicht wurden. Angesichts dessen gilt es sich im folgenden Arbeitsschritt zu vergegenwärtigen, welche entsprechenden Potentiale interdisziplinäre Erforschungen von Nahtoderfahrungen innewohnen.
5. INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNGEN ZU NAHTODERFAHRUNGEN UND DAS „WESEN WISSENSCHAFTLICHER REVOLUTIONEN“
Wenn man sich mit der Geschichte wissenschaftlicher Forschungen zu Nahtoderfahrungen beschäftigt, so drängt sich die Frage auf, inwieweit ihr etwas zu eigen ist, was Thomas S. Kuhn, einer der profiliertesten Wissenschaftsphilosophen und Wissenschaftshistoriker des 20. Jahrhunderts, als das „Wesen (…) wissenschaftlicher Revolutionen“ bezeichnet hat (vgl. T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen; zweite revidierte und um das Postskriptum von 1969 ergänzte Auflage; revidierte Übersetzung von Hermann Vetter, Frankfurt a. M. 1976, 104). Die in hohem Maße kontroversen Debatten evozieren immer wieder eine wissenschafts- und erkenntnistheoretische Kernfrage. Diese Frage ist, ob Nahtoderfahrungen im Rahmen der etablierten Paradigmen der an den Diskussionen beteiligten Wissenschaften angemessen erklärt werden können oder ob sie vielmehr zu Revisionen bzw. Weiterentwicklungen jener Paradigmen herausfordern? Dabei gilt es zu beachten, dass Thomas S. Kuhn an verschiedenen Forschungsfeldern darlegen konnte, dass derartige Paradigmenwechsel oft nicht durch kontinuierliche Entwicklungen innerhalb eines Diskursfeldes herbeigeführt wurden. Dies war v.a. dann der Fall, wenn die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht im Stande waren, die historisch gewachsenen Paradigmen ihrer Disziplinen selbstkritisch zu hinterfragen und gegebenenfalls neu zu bestimmen. Auch in jenen Forschungsfeldern, in denen die skizzierten skeptischen bzw. reduktiv-materialistischen Positionen formuliert werden, gibt es keine einheitlichen Meinungsbilder. So lehnen es z.B. verschiedene Neurophysiologen und Psychologen aufgrund wissenschaftlicher Beobachtungen ab, Nahtoderfahrungen für Halluzinationen, drogeninduzierte Träume oder Notfunktionen eines sterbenden Gehirns zu halten. Eine Kernfrage entsprechender Diskurse kann mit den Worten eines Diskursteilnehmers charakterisiert werden, der aufgrund seiner wissenschaftlichen Qualifikation hierfür geradezu prädestiniert ist. Der Neurologe und Psychologe Dieter Vaitl hat in einer der jüngeren Studien zu Nahtoderfahrungen ein Resümee formuliert, welches das Dilemma der gegenwärtigen Forschungsdiskussionen treffend auf den Punkt bringt: „Die erste und zentrale Frage lautet: Wie können mentale Prozesse bei klarem Bewusstsein ablaufen, wie sie von NTE-Betroffenen geschildert werden, wenn die bisher bekannten neurophysiologischen und zerebralen Prozesse für einen Bewusstseinsverlust sprechen? (…) Beim derzeitigen Kenntnisstand müssen wir uns eingestehen, dass es für die oben geschilderte Diskrepanz keine plausible Erklärung gibt. Es ist und bleibt ein Paradox!“ (D. Vaitl, Veränderte Bewusstseinszustände: Grundlagen – Techniken – Phänomenologie, Stuttgart 2012, 159f.). Diese von Dieter Vaitl diagnostizierte Paradoxie ist umso bemerkenswerter, wenn man sich vergegenwärtigt, welche fundamentalen Fragen die Forschungsdiskurse noch immer prägen (vgl. die im vorhergehenden Arbeitsschritt skizzierten Fragen, die im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ kontinuierlich zur Diskussion gestellt werden). Derartige Fragen beschäftigen die Nahtodforschung seit ihren Anfängen und werden sie auch weiterhin begleiten. Sie veranschaulichen, was die eigentlichen Kernfragen wissenschaftlicher Diskurse zu Nahtoderfahrungen sind. Nahtoderfahrungen sind wissenschaftstheoretische Grenzfälle, welche eine neue Zugangsperspektive zu einer Grundfrage menschlicher Existenz eröffnen: Was ist „Bewusstsein“? In welchem Verhältnis steht das, was gemeinhin mit Begriffen wie „Geist“, „Seele“ und „Körper“ bezeichnet wird? In welchem Verhältnis stehen „Geist“ und „Materie“? Die bisherigen Diskurse lassen oftmals redundante Wiederholungen vergleichbarer Diskussionsbeiträge und Diskussionsstrukturen beobachten. Profunde Fortschritte der Forschung werden nur erreicht werden können, wenn es zu einem Aufbau interdisziplinärer Arbeitsgruppen kommt, in welchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jener unterschiedlichen Fachbereiche sich kontinuierlich der Erforschung von Nahtoderfahrungen widmen. Dies zu fördern und institutionell zu etablieren, ist ein zentrales Anliegen der „Kieler Akademie für Thanatologie“.
6. DIFFERENZIERUNGEN DES BEGRIFFS „NAHTODERFAHRUNG“
In der bisherigen Forschungsgeschichte wurden unterschiedliche Konzepte herausgearbeitet, das Phänomen „Nahtoderfahrung“ begrifflich zu definieren. Angesichts der vielschichtigen und partiell disparaten Ansätze von Definitionen legt es sich nahe, fünf Unterkategorien von einander zu differenzieren, nämlich „Transzendenzerfahrung“, „Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne“, „Nahtoderfahrungen im engeren Sinne“, „Transformationserfahrungen“ und „Erfahrungen göttlicher Liebe“. Als ein erstes Differenzkriterium kann die Bestimmung der Nähe zum Tod bzw. biologischen Exitus des menschlichen Individuums gewertet werden, nämlich die Differenz einer objektiven bzw. medizinisch dokumentierten Todesnähe, einer subjektiv wahrgenommenen Todesnähe und einer nicht bestehenden Todesnähe. Die drei Begriffe „Transzendenzerfahrung“, „Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne“ und „Nahtoderfahrungen im engeren Sinne“ sind dabei wie konzentrische Kreise einander zugeordnet. Der Begriff „Transzendenzerfahrung“ ist zunächst sehr weit gefasst. Er bezeichnet alle Phänomene, bei denen Menschen subjektiv für sich in Anspruch nehmen, ein verändertes Bewusstsein wahrgenommen zu haben, eine Form von „Transzendenz“, welche einem normalen Spektrum individueller Wirklichkeitswahrnehmungen nicht entspricht bzw. über dieselben hinausreicht. Als Beispiele hierfür kann verwiesen werden auf Erfahrungen von Mystikern unterschiedlicher religiöser Provenienz, Erfahrungen im Zusammenhang spezieller Meditationspraktiken, schamanistische Vorstellungen, Erfahrungen in Folge von Drogenkonsum etc. Der Begriff „Nahtoderfahrungen im engeren Sinne“ bezieht sich auf Erfahrungen, die „im engeren Sinne“ in medizinischen Notsituationen stattgefunden haben und bei denen die medizinische Notlage dokumentiert bzw. nachweisbar war. Demgegenüber beziehen „Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne“ auch solche Erfahrungen ein, in denen die Betroffenen subjektiv für sich wahrgenommen haben, in Todesnähe zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung sollen zwei weitere Begriffe in die Diskussion eingeführt werden. Der Begriff „Transformationserfahrung“ nimmt einen Gedanken von William James auf, einem der Gründerväter der Religionspsychologie. William James zufolge gilt es nicht nur zu beachten, welche subjektiven Erfahrungen Menschen für sich in Anspruch nehmen. Entscheidend sei, welche Konsequenzen sie für deren weiteres Leben haben. Es geht also um die Frage, ob und wenn wie sich eine Existenz nach einer Erfahrung transformiert. Solche Transformationen können wiederum sehr unterschiedliche positive und negative Konsequenzen haben. Angesichts dessen wird mit dem fünften Begriff auf einen speziellen Anspruch Bezug genommen. Es geht um das Phänomen, dass Menschen ihr Leben transformieren, weil sie für sich in Anspruch nehmen, eine „Erfahrung göttlicher Liebe“ gemacht zu haben. Der Begriff „göttliche Liebe“ soll zum Ausdruck bringen, dass die Betroffenen für sich in Anspruch nehmen, eine Dimension von Liebe, Geborgenheit und Glückseligkeit erfahren zu haben, welche die Erfahrungen ihres bisherigen Lebens kategorisch übertreffen. Viele dieser Menschen entwickeln verstärkt altruistisch ausgerichtete Lebenseinstellungen. So wird z.B. oftmals einer solidarischen Fürsorge für hilfsbedürftige Mitmenschen oder der Wahrnehmung von Natur und Umwelt eine gesteigerte Wertschätzung zu Teil, während das Streben nach materiellen Werten wie Reichtum bzw. einem höheren Lebensstandard an Bedeutung verliert. Neben diesen ethischen bzw. lebenspraktischen Akzentverschiebungen entwickeln viele Menschen in Folge von Nahtoderfahrungen auch Ansichten, die als religiöse bzw. spirituelle Vorstellungen bezeichnet werden können. Dies gilt z.B. für individuell gewonnene Überzeugungen, dass der körperliche Tod nur als das Ende der vorfindlichen körperlichen Verfasstheit menschlicher Existenz zu verstehen sei. Auch wenn wie bei jedem anderen Mensch der Prozess des Sterbens z.B. aufgrund von schweren Krankheiten als belastende Lebensphase wahrgenommen werden kann, haben viele Nahtoderfahrene vor dem Tod selbst keine Angst mehr. Probleme bereiten psychologische Verarbeitungen derartiger Nahtoderfahrungen v.a. in solchen Konstellationen, in denen die jeweiligen Mitmenschen nicht bereit bzw. fähig sind, die neu gewonnenen Lebenseinstellungen der Betroffenen zu tolerieren bzw. zu akzeptieren. In solchen Konstellationen kann es dazu kommen, dass Nahtoderfahrene ihr Leben grundlegend ändern, z.B. im Bereich von Partnerschaften, beruflichen Tätigkeiten, Distanzierungen von vertrauten religiösen oder sozialen Gemeinschaften etc. Des weiteren gilt es sich einen Aspekt zu vergegenwärtigen, der die Zuordnung der skizzierten fünf Teilbegriffe nochmals erschwert: „Transformationserfahrungen“ in Folge von „Erfahrungen göttlicher Liebe“ können nämlich in allen Kontexten auftreten, die mit den drei ersten Teilbegriffen bezeichnet werden, also im Kontext von „Transzendenzerfahrung“, „Nahtoderfahrungen im weiteren Sinne“ und „Nahtoderfahrungen im engeren Sinne“. Da solche Erfahrungen somit auch in Lebenssituationen gemacht werden können, bei denen keine Lebensgefahr besteht, ist m.E. der Begriff „Nahtoderfahrungen“ unpräzise. Aber es ist nur schwer möglich, einen Begriff zu modifizieren, der in den entsprechenden Diskursen seit Jahrzehnten verwendet wird. Aus diesem Grund wird der Begriff „Nahtoderfahrungen“ auch in den Beiträgen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ verwendet, wobei jedoch stets die Differenzierung der skizzierten fünf Teilbegriffe berücksichtigt werden muss.
Phänomene in Todesnähe und Medialität
Wenn gefragt wird, was wissenschaftlich über das Phänomen „Tod“ gesagt werden kann und was die Grenzen unseres Wissens über den Tod sind, so müssen auch „Phänomene in Todesnähe“ in die Diskussion einbezogen werden. Letztere unterscheiden sich in einem Aspekt grundlegend von sogenannten „Nahtoderfahrungen“. Mit dem Begriff „Nahtoderfahrungen“ werden Erlebnisse bezeichnet, die Menschen für sich in Anspruch nehmen, die sich selbst (unter anderem) in Todesnähe befunden haben und die zuweilen sogar schon für tot erklärt worden sind. Im Unterschied hierzu bezieht sich der Begriff „Phänomene in Todesnähe“ auf jene Wahrnehmungen, welche Menschen für sich in Anspruch nehmen, welche den Sterbeprozess eines Menschen begleitet haben. Derartige Phänomen sind u.a. „Terminale Geistesklarheit“, „Sterbebettvisionen“, „Nachtodkontakte“ etc. Entsprechend muss auch das Phänomen „Medialität“ betrachtet und diskutiert werden, welches es in vielen verschiedenen Kulturen und Epochen gab und gibt, also das Phänomen, dass spezielle Menschen für sich in Anspruch nehmen, zwischen verstorbenen und lebenden Menschen vermitteln zu können.
Mystik
Mystik ist ein Sammelbegriff für Phänomene, die in unterschiedlichen Kulturen und Epochen begegnen. Ein verbindendes Element derselben kann mit dem Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin folgendermaßen umschrieben werden:
„Der gemeinsame Grundzug ist eine religiöse Haltung, die eine Transzendenz Gottes gegenüber dem glaubenden Menschen als gemeinsame Erfahrungstatsache voraussetzt und diese Transzendenz schon im Diesseits punktuell zu überwinden trachtet: Das Transzendente wird wenigstens momenthaft immanent – und hebt dabei die Begrenzung des innerweltlichen Gläubigen auf. Der Weg hierzu ist der Weg der Introspektion, der Innenschau. Dieser Blick in das Innere führt zum Fernsten, dem transzendenten Gott – und er überbrückt nicht nur eine räumliche Distanz, sondern auch eine zeitliche. Letztlich bedeutet die Aufhebung der Begrenzung zwischen Mensch und Gott eine Vorwegnahme der jenseitigen Erlösung, für die verheißen ist, dass Gott „alles in allem“ sein wird (1 Kor 15,28).“ (vgl. V. Leppin, Die christliche Mystik, C. H. Beck-Wissen 2415, München 2007, 9f.).
Im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ werden mystische Traditionen in Bezug auf ihre jeweiligen Verständnisse von Tod betrachtet und zu weiteren Themen der Thanatologie in Beziehung gesetzt. Dies gilt im besonderem Maße für die Themen „Nahtoderfahrungen“, „Platon und der Platonismus“ und „Platonisches Christentum“.
Reduktiver Materialismus
Ein „reduktiver Materialismus“ geht von der Prämisse aus, dass jene Dimensionen menschlicher Existenz, die mit Begriffen wie „Seele“, „Geist“, „Bewusstsein“ bzw. „Selbstbewusstsein“ bezeichnet werden, auf materielle Ursachen zurückgeführt und entsprechend erklärt werden können, insbesondere auf hirnphysiologische Prozesse. Die erkenntnistheoretischen Grundzüge eines solchen Welt- und Menschenbildes wurden bereits in der vorsokratischen Philosophie entwickelt und v.a. in der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte in unterschiedlichen Forschungsfeldern entfaltet. Die Auseinandersetzung mit den Prämissen eines reduktiven Materialismus können als eine Kernfrage wissenschaftlicher Forschung zur Thanatologie im Generellen und zu Nahtoderfahrungen im Speziellen verstanden werden. Vorausgreifend kann eine Leitfrage folgendermaßen umschrieben werden: Viele neurophysiologische und psychologische Diskussionsbeiträge setzen ein Verständnis von Materie bzw. Stofflichkeit voraus, ohne dasselbe selbst zum Gegenstand der Diskussionen werden zu lassen. Jene Leitfrage ist somit, was die wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe des jeweiligen Verständnisses von Materie bzw. Stofflichkeit sind. Oder um es mit anderen Worte zu formulieren: Ist das Verständnis von Materie bzw. Stofflichkeit, welches in verschiedenen Ausformungen reduktiv-materialistischer Welt- und Menschenbilder vorausgesetzt wird, eigentlich noch mit den Erkenntnissen jener Wissenschaftsfelder vermittelbar ist, in denen die Erforschung und Erklärung von Materie bzw. Stofflichkeit das eigentliche Zentrum wissenschaftlicher Arbeiten bildet, also z.B. im Bereich quantenphysikalischer Diskurse? Signifikante Fortschritte derartiger Diskussionen werden jedoch nur ermöglicht werden, wenn es zu einem Aufbau interdisziplinärer Arbeitsgruppen kommt, in denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Fachbereiche sich kontinuierlich entsprechenden Forschungen zur Thanatologie im Generellen und zu Nahtoderfahrungen im Speziellen widmen können. Der Aufbau eines solchen institutionellen Rahmens ist ein zentrales Anliegen der „Kieler Akademie für Thanatologie“.
Künstliche Intelligenz
Auf den ersten Blick mag es verwunderlich erscheinen, warum Diskurse zur sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ für das Verständnis des Phänomens „Tod“ von Relevanz sein sollen. Ein zweiter Blick verändert diesen Eindruck jedoch grundlegend: Wenn gefragt wird, was „künstliche Intelligenz“ ist, so impliziert dies auch die Folgefrage, was „künstlich“ und was „Intelligenz“ ist. Entsprechend kann gefragt werden, ob alle Aspekte von „Intelligenz“ künstlich reproduziert werden können oder ob es auch Aspekte von Intelligenz gibt, für die dies nicht gilt. Derartige Fragen stehen in Beziehung mit dem Menschenbild eines sogenannten „reduktiven Materialismus“. Wenn die Ansicht vertreten wird, dass jene Dimensionen menschlicher Existenz, die mit Begriffen wie „Seele“, „Geist“, „Bewusstsein“ oder „Selbstbewusstsein“ bezeichnet werden, auf physiologische Grundlagen wie neuronale Gehirnprozesse zurückgeführt werden können, so kann man auch zu der Einschätzungen gelangen, dass alle diese Dimensionen (bei kontinuierlichen Fortschritten der Forschungen) künstlich reproduziert werden können. In dieser Hinsicht wurden in Forschungsrichtungen, die mit Begriffen wie „Transhumanismus“ oder „Posthumanismus“ bezeichnet werden, Vorstellungen ausgebildet, denen zufolge Menschen in absehbarer Zeit dazu in der Lage sein werden, ein „künstliches Bewusstsein“ zu erschaffen – und damit letztlich „Unsterblichkeit“. Wenn sich in weiteren Forschungen zu diesem Thema jedoch zeigen sollte, dass dies nicht möglich ist, so stellt sich wiederum die Frage, was jene Dimensionen von Existenz und Lebendigkeit sind, die sich einer künstlichen Reproduktion entziehen. Oder um es mit vereinfachenden Worten zu sagen: Eröffnen die Forschungen zur künstlichen Intelligenz neue Zugängen zu der Vorstellung, dass es so etwas wie eine „unsterbliche Seele“ oder ein „unsterbliches Bewusstsein“ gibt? Und was wären die wissenschaftlichen Konsequenzen einer solchen Einschätzung? Derartige Fragen werden im Kontext der „Kieler Akademie für Thanatologie“ kontinuierlich zur Diskussion gestellt.
Transhumanismus / Posthumanismus
Transhumanistische und posthumanistische Konzepte können als konsequente Ausgestaltungen einer reduktiv-materialistischen Anthropologie verstanden werden. Wenn man die Ansicht vertritt, dass jene Dimensionen menschlicher Existenz, die mit Begriffen wie „Seele“, „Geist“, „Bewusstsein“, bzw. „Selbstbewusstsein“ bezeichnet werden, auf materielle bzw. physiologische Ursachen zurückgeführt werden können, so kann man auch zu der Ansicht gelangen, dass Menschen in absehbarer Zeit dazu in der Lage sein werden, die Grundlagen ihrer Existenz signifikant zu transformieren oder sogar eine neue Stufe der Evolution einzuleiten, in denen die Begrenztheiten menschlicher Existenz prinzipiell überwunden werden. Dies gilt auch für verschiedene Vorstellungen von einem „künstlichen Bewusstsein“ oder einer „künstlichen Unsterblichkeit“. Derartige Konzepte werden im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ in Bezug auf die zugrunde gelegten Verständnisse von Leben und Tod und in Bezug die jeweiligen wissenschaftsgeschichtlichen Hintergründe betrachtet.
Liebe
Das Phänomen „Liebe“ begegnet an verschiedenen Schnittpunkten von Themen der Thanatologie. Dies gilt z.B. für die Themen „Künstliche Intelligenz“ und „Nahtoderfahrungen“. Wie in den entsprechenden Einführungen erklärt wurde, ist eine zentrale Frage der Forschungem zur sogenannten „Künstlichen Intelligenz“, welche Dimensionen menschlicher Existenz künstlich reproduzierbar sind und welche nicht. Verschiedene Vertreterinnen und Vertreterinnen transhumanistischer oder posthumanistischer Menschenbilder vertreten Ansichten, denen zufolge der Fortschritt der Forschung auch dazu führen wird, künstliches Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein zu erschaffen. Eine solche Einschätzung zieht die Frage nach sich, inwiefern auch eine „künstliche Liebe“ produziert werden kann. Diese Frage schafft eine Verbindung zum Themenfeld „Nahtoderfahrungen“. Sie sollen oftmals mit „Erfahrungen einer bedingungslosen Liebe“ einhergehen, deren Dimensionen in keiner Weise angemessen zu beschreiben sei. Anhängerinnen und Anhänger reduktiv-materialistischer Menschenbilder vertreten diesbezüglich zuweilen die Ansicht, dass es sich hierbei z.B. um Fehlfunktionen eines sterbenden Gehirns handelt. Eine solche Ansicht würde wiederum die Einschätzung legitimieren, dass auch jene Erfahrungen einer bedingungslosen Liebe künstlich herbeigeführt werden können. Wenn man jedoch die skizzierten Prämissen eines reduktiv-materialistischen Menschenbildes nicht mitträgt, so ergeben sich neue Zugangsperspektiven zu der Frage, was „Liebe“ ist.Ebenso führt das Verständnis von „Liebe“ Diskurse fort, die sich bereits in der antik-mediterranen Geistesgeschichte beobachten lassen und den ebenfalls im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, nämlich den frühchristlichen und platonischen Verständnissen des Phänomens „Tod“ und den damit einhergehenden Verständnissen von „Liebe“. Diese Diskurse sollen im Rahmen der Beiträge zu dem Themenfeld „Platonisches Christentum“ neu belebt und fortgeführt werden.
Seelenwanderung
Der Sammelbegriff „Seelenwanderung“ umfasst eine Vielzahl von Konzepten, die in unterschiedlichen Kulturen und Epochen ausgebildet wurden. Sie verbindet die Vorstellung, dass es eine Dimension menschlicher Existenz gibt, die nicht nur den körperlichen Tod überlebt, sondern die bereits vor der Geburt existiert hat. Diese oftmals mit Begriffen wie „Seele“, „Bewusstsein“, „Selbstbewusstsein“ bezeichnete Dimension menschlicher Existenz durchlebt vielmehr verschiedene Formen von „Inkarnationen“ in verschiedenen „Körpern“. Im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ werden die Gemeinsamkeiten und Differenzen verschiedener religiöser Systeme dargestellt, die dem Sammelbegriff „Seelenwanderung“ zugeordnet werden können.
Seelsorge und Trauerbegleitung
Das Themenfeld „Seelsorge und Trauerbegleitung“ unterscheidet sich von den übrigen thematischen Zugangsperspektiven. Letztere zielen darauf ab, die konträren Positionen innerhalb der Diskurse möglichst neutral zur Geltung zu bringen und weiterführende Verständigungen zu ermöglichen. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen für sich selbst entscheiden, welche Erklärungen und Deutungen der jeweiligen Fragestellungen für sie plausibel sind. Im Themenfeld „Seelsorge und Trauerbegleitung“ soll jedoch auch zur Geltung gebracht werden, welche Konsequenzen jene Positionen nach sich ziehen können. In diesem Bereich wird die transdisziplinäre Zusammenarbeit mit therapeutischen Einrichtungen von besonderer Bedeutung sein.
Platon und der Platonismus
Kaum eine andere Philosophie hat die abendländische Geistesgeschichte so sehr geprägt wie die Philosophie Platons – sei es produktiver Ausgestaltung, sei es in kritischer Ablehnung. Dies gilt auch für das Verständnis des Phänomens „Tod“. Ein zentrales Merkmal der sich auf Platon berufenden Schulbildungen ist die Vorstellung von der „Unsterblichkeit der Seele“. Im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ wird einerseits dargestellt, welche Konsequenzen diese Vorstellung für das Menschenbild Platons und der verschiedenen platonischen Schulbildungen besitzt. Andererseits wird zur Geltung gebracht, inwiefern sich gerade in diesem Bereich der platonischen Philosophie Analogien zu jenen Phänomenen beobachten lassen, die heute mit dem Begriff „Nahtoderfahrungen“ bezeichnet werden.
Jesus und das frühe Christentum
Auch wenn in der Geschichte des frühen Christentums viele verschiedene Deutungen der Gestalt und Botschaft Jesu entwickelt wurden, so gibt es einen Aspekt, der in nahezu allen Konzepten begegnet, nämlich der Glaube an die „Auferstehung Jesu von den Toten“. Gleichwohl war von Beginn an umstritten, was unter „Auferstehung“ zu verstehen ist. Diese Diskurse werden im Rahmen der „Kieler Akademie für Thanatologie“ aus einer veränderten Zugangsperspektive betrachtet, und zwar in Bezug auf das Verständnis von „Tod“, das den gegensätzlichen Ansätzen zugrunde liegt. Dabei werden auch jene Schriften und Vorstellungen in die Diskussionen einbezogen, die im Zuge der Ausbildung altkirchlicher Dogmen und Bekenntnisse und der damit einhergehenden Formierung des biblischen Kanons verdrängt oder verboten wurden.
Platonisches Christentum
Christliche Theologie wurde seit ihren Anfängen durch Auseinandersetzungen mit dem Platonismus geprägt, die verschiedene Formen eines „platonischen Christentums“ inspirierten. Die „Kieler Akademie für Thanatologie“ nimmt diese Entwicklung auf und stellt einen neuen Ansatz zur Diskussion: Jene Erfahrungsmuster, die heute mit dem Begriff „Nahtoderfahrungen“ bezeichnet werden, haben bereits die Entstehung des Platonismus und des frühen Christentums geprägt. Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Phänomen „Tod“ im Generellen und mit sogenannten „Nahtoderfahrungen“ im Speziellen eröffnen Zugänge zu neuen Formen platonisch-christlicher Religiosität. Formal betrachtet kann dieser neue Ansatz mit drei Leitgedanken charakterisiert werden. Es geht um a) die Wiederbelebung jener Diskurse, die sich zwischen etablierten und verdrängten Formen frühchristlicher Systeme in Bezug auf platonische Vorstellungen beobachten lassen, b) die Vermittlung jener frühchristlichen Diskurse mit relevanten Fragestellungen heutiger Wissenschaftsdiskurse, c) die Etablierung offener Diskurse über neue Formen platonisch-christlicher Religiosität.